Das Wetter scheint mir etwas launisch. Mal schneit es, mal regnet es, mal scheint die Sonne und immer wieder bläst der Wind so, dass ich aus dem Schlaf erwache. Immer dann, wenn der Schnee weg ist meldet sich Frau Primavera. Nur ganz leise, sie weiss ja, dass ich dieses Jahr ihre Stimme nur beratend, nicht entscheidend, zählen lasse. Zum Glück hatte ich alle Hände voll zu tun mit der Organisation und Durchführung des Info-Abends zum Thema «Wolf». Das Thema Corona-Virus beschäftigte mich in der Woche vor der Veranstaltung weit intensiver als der eigentliche Zweck des Abends. Den Abend selbst habe ich dann sehr genossen. Ich habe spannende Leute getroffen und wirklich viel über den Wolf, sein Wesen und unsere Aufgabe als gute Nachbarn herausgefunden. Quintessenz für mich war: Vor einem gut erzogenen, gesunden Wolf muss man sich eigentlich nicht fürchten. Wir scheinen einen solchen zu haben. Damit das so bleibt sind wir als Erzieher gefragt. Auf Details gehe ich hier nicht ein. Das würde zu lange dauern.
Am Tag nach der Veranstaltung war ich ähnlich unruhig, wie davor, einfach mit einem anderen Gefühl im Bauch. Irgendetwas sollte ich doch noch machen…Das Wetter war recht gut und da Frau Primavera gerade versuchte mir Vorschläge zu machen was ich denn so machen könnte an diesem freien Tag, beschloss ich sie etwas zu besänftigen mit einem Rundgang durch den Garten. Wirklich fantastisch was da schon alles wächst. Wir haben schon wieder etwas Peterli und so einiges an Schnittlauch. Unsere Austernpilze an den geimpften Buchenstämmen scheinen zu gedeihen und im Beet der Kinder hat die Goldmelisse schon wieder viele Triebe hervorgebracht. In einem meiner Beete steht noch etwas Broccoli und dieser sah doch tatsächlich etwas angeknabbert aus. Die Wildbeobachtungskamera musste her. Mit den Jungs montierte ich sie in der Nähe des Beetes. In der Zwischenzeit markierten die Buben mit Hilfe von kleinen Stöcken alle Tierspuren, die sie im und um den Garten fanden. Und, weil das so viel Spass machte und wir gerade dabei waren, installierten wir auch die anderen Kameras. Wer weiss, wer hier im wilden Westen alles auf unserer Liegenschaft unterwegs ist?
Als wir gerade wieder auf dem Weg zur Strasse waren, sagte der kleinere Sohn plötzlich: «Schau Mami, da hat es wilden Schnittlauch!» Ich drehte mich um. Es konnte tatsächlich sein. Es sah so aus, roch so, es ist wohl so. Wilden Schnittlauch hatten wir auch in der Obstanlage auf meinem Elternbetrieb. Augenblicklich stieg in mir ein Bild auf, von einem jungen Mann, seinem Collie und dem Schnittlauch, den er aufwarf um den Hund danach schnappen zu lassen. Der Hund hiess «Nidle». Den Namen ihres Besitzers weiss ich nicht mehr. Ich weiss, dass er bei uns gearbeitet hat. Ich mochte ihn und den Hund gern. Als ich jetzt den Schnittlauch in den Händen hielt, stiegen Tränen in mir auf. Nicht lange nach dem der junge Mann von uns weg gezogen war, um seine Ausbildung weiter zu führen, bekamen wir die traurige Nachricht, dass er gestorben sei. Mami meint ich müsse damals etwa sechs Jahre alt gewesen sein. Das hiesse, ich war wohl in der ersten Klasse. Ich weiss, dass ich damals gelernt hatte was das Wort "goldener Schuss" bedeutet. Der junge Mann, den wir alle so liebgewonnen hatten, hatte ein grosses Problem. Ein Problem, das leider viele junge Leute anfangs der 90er-Jahre hatten. In meiner Erinnerung sehe ich ihn im Licht der untergehenden Sonne, auf der Wiese unter unseren alten Apfelbäumen mit Nidle spielen.
Ich nahm die abgerissenen Halme des Schnittlauchs und wir gingen ins Haus. Schon erstaunlich, dass unser bald fünf Jähriger den Schnittlauch erkannt hat, obwohl keiner von uns ihm je gesagt hat, dass es den auch als Wildkraut gibt. Andererseits kennt er die kultivierte Variante ja sehr gut. Wieso sollte er die wilde Variante also nicht erkennen? Welche wilden Gesellen wir auf den Kameras fanden? Ein Reh, einen Fuchs und die Nachbarskatze. Aber die Kameras hängen ja noch. Wer weiss, vielleicht werden wir irgendwann ja auch noch wildere Tiere auf der Karte haben. Einen Hasen vielleicht oder…