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Mussestunden

Diese Woche kam mir das Wort Musse in den Sinn. Zu Beginn meines Mutterseins hatte ich die Musse ganz bewusst gepflegt aber mit den Jahren war mir das irgendwie nicht mehr so geläufig. Ich erinnerte mich daran, dass ich im Rahmen meiner Abschlussarbeit etwas über Musse geschrieben hatte. Auf dem Computer fand ich den Text sogar noch und konnte mich kaum mehr von ihm lösen.

 

Da steht, ein Zitat von Christoph Wilhelm Hufeland wonach Musse «ein Tun, das nicht aus dem Zwang der Not kommt, nicht aus der Gier nach Gewinn, nicht aus dem Gebot oder der Pflicht, sondern allein aus der Liebe und der Freiheit» ist. Und weiter: «Es ist die anspruchsvollste aller Beschäftigungen, weil sie aus dem Kern unseres Wesens hervorgeht und aus der Freude am Schaffen selbst getan wird. Es ist vor allem die unverwelkliche Fähigkeit zum Staunen und zum Ergriffensein.»

 

Musse haben heisst also etwas aus ganz eigener Motivation zu machen, ohne irgendeinen Profit dahinter zu haben ausser der persönlichen Befriedigung. Zeit für Musse zu haben heisst auch, sich Zeit zu nehmen über sich und sein Leben nachzudenken. Irgendwie erinnert mich das sehr an die jetzige Zeit, in welcher viele Menschen nicht recht wissen was sie mit ihrer Zeit anstellen sollen. Sie hätten die Zeit zur Musse aber sie wissen nicht wie man Musse haben kann. Wir auf dem Land haben noch viele Aufgaben. Andere Leute haben plötzlich fast ein Vakuum und beginnen ihre Zeit jetzt mit Fernsehen oder ähnlichen Tätigkeiten zu vertreiben. Ich gehöre zu den Glücklichen, die etwas von beidem haben.

 

Diese Woche hatte ich endlich mal wieder Zeit und eben vor allem die Musse etwas zu nähen. Und siehe da, ich fühle mich gut. Nicht wegen des Nähens allein, sondern, weil ich die Möglichkeit habe mich darin zu vertiefen. Anlass dazu gaben mir meine Jungs. Sie äusserten den Wunsch mit mir ein neues Kuscheltier zu gestalten. In der Regel gibt es für ihre Wünsche keine vorgefertigten Schnittmuster. So auch diesmal. Ein Steinadler sollte es sein. Ein Steinadler, dessen Flügel so gross seien, dass man sie sich um die Schultern legen könne. Diese Aufgabe hat mein Hirn gefordert und meine Fertigkeiten auf die Probe gestellt und ich habe jede Sekunde des Projektes genossen. Jetzt nähe ich weiter. Einfach so. Der Adler ist längst fertig. Jetzt nähe ich für mich. Ich habe Musse in diesen Momenten. Und ich habe Musse beim Schreiben.

 

Musse ist nicht einfach freie Zeit, die man sich vertreibt, sondern die Möglichkeit die Zeit bewusst zu verbringen mit etwas, dass einem persönlich wichtig ist. Die Fähigkeit zur Musse ist in unserer heutigen Zeit nicht selbstverständlich. Wie viele Kinder und Erwachsene haben laufend Aufgaben zu erledigen und, wenn sie nichts zu tun haben, lassen sie sich vom Fernseher berieseln oder vom Handy unterhalten.

 

In den Grundlagen unseres Lehrplanes wird Musse erwähnt. Da steht: «Gegenseitige Wertschätzung, Lebensfreude und Musse stellen wichtige Werte dar.» Als ich meine Abschlussarbeit schrieb gab es noch keinen Lehrplan21. Im Zürcher Lehrplan wurde das Wort Musse so erklärt: «Musse heisst Zeit zu finden, um auf sich selbst, auf andere, auf die Welt aufmerksam zu werden. Die Schule räumt auch Zeit für Musse ein. Die Musse dient dem Innewerden, der Selbstbesinnung, der Einfühlung in andere Menschen. Aus innerer Ruhe wächst Kraft. Schüler und Schülerinnen, Lehrerinnen und Lehrer pflegen Musse, indem sie Zeit dafür finden, sich zu sammeln, zu lauschen, zu schauen, zu betrachten, zu bedenken, zu staunen, Stimmungen einwirken zu lassen.»

 

Wir haben nun weitere drei Wochen Fernunterricht vor uns. Ich habe mir fest vorgenommen meinen Kindern auch Mussestunden auf den Stundenplan zu schreiben. Wir pflegen diese ja ohnehin aber jetzt vielleicht wieder etwas bewusster. Einige mögen Angst davor haben, dass die «Generation Fernunterricht» später schulisch schlechtere Karten haben könnte. Aber was wäre, wenn sie dafür die Fähigkeit zur Musse erlernen würden? Sie könnten innere Ruhe finden statt von der Klavierstunde zum Judo zu eilen und nebenbei Chinesisch zu lernen. Diese Kinder könnten fürs Leben lernen und vielleicht zukünftigen Burnouts vorbeugen.