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Wie aus einer anderen Zeit

Bereits vor der Geburt unseres ersten Sohnes bekamen wir von verschiedenen Seiten Kinderkleidung. Von Grösse 50 bis 150 war alles dabei und ich durfte mich durch diese Haufen in weiss, rosa, blau und grün durchwühlen. Nicht wenig davon waren Kleidungsstücke, die bereits ich und meine Brüder getragen haben. Teilweise Sachen, die ich getragen hatte, nachdem sie meinen Cousinen zu klein geworden waren. Je grösser die Jungs wurden desto spärlicher wurde dieser Vorrat an Altem und Bewährten.

 

Das ist einerseits schade und anderseits ganz gut so. Ich liebe es meine Jungs in so geschichtsträchtiger Kleidung zu sehen, vor allem dann, wenn sie sie freiwillig anziehen. Aber es hat auch etwas von einem Anachronismus. Manchmal sehen sie aus, als wären sie mit McFlys Delorean in die 90er gereist, um dort eine Skihose und eine Jacke aus dem Schrank meiner Brüder zu stehlen und anschliessend wieder zurück zu kehren. Ein Pullover aus dem Schrank meines jüngsten Bruders ist momentan sehr angesagt bei unserem Ältesten. Er trägt mit Stolz den Pulli, den schon sein Götti getragen hat und ich muss ihn regelrecht stibitzen damit er zwischendurch auch gewaschen werden kann. Ich darf ihn nur nicht zu oft waschen sonst geht das Motiv womöglich noch ab und dann, dann haben wir ein grösseres Problem. Auf dem Pullover ist nämlich ein Pikachu.

 

Als wir von einigen Wochen bei meinen Eltern zu Besuch waren, fanden wir in einem sentimentalen Anflug, dass wir eigentlich mal wieder das Pokémon Brettspiel spielen könnten. Das ist ein Brettspiel, das alle auf Anhieb mitspielen können. Die Jungs waren sofort Feuer und Flamme. Plötzlich verstanden sie, dass dieses süsse gelbe Wesen auf dem Pullover zu einer ganzen Geschichte, ja einer Welt voller süsser Wesen gehörte. Seit diesem Tag gibt es bei uns ein grosses Thema: Pokémon.

 

Mein Mann tut mir etwas leid. Er ist zu alt für das Phänomen. Eigentlich bin auch ich schon zu alt. Hätte ich keine jüngeren Brüder wäre das ganze Thema wohl einfach an mir vorbeigegangen. Dabei ist das so ein grosses Ding, dass sogar das Wordprogramm weiss, wie man Pikachu schreibt…

 

Ich geniesse es mit den Jungs in diese Welt einzutauchen. Zumal sie auch von ihren Onkeln aufgeschnappt haben, dass nur die 150 Wesen der ersten Generation wirklich cool sind. So habe ich die Chance voll mitzureden, denn die neueren Wesen kenn ich mit ein paar wenigen Ausnahmen nicht.

 

Wir sprechen über Entwicklungen, Attacken und Typen und ich bin sozusagen ihre Expertin auf diesem Gebiet. Mit Begeisterung hören wir uns die alten Lieder zur Serie an. In einer Schublade fanden wir ein GameBoy-Spiel und die dazugehörige Konsole funktioniert sogar noch recht annehmbar. So fühle ich mich derzeit gleich gut 20 Jahre zurückversetzt. Zurück in eine Zeit der Unbeschwertheit, ohne Erwachsenenkram, ohne Corona. So geht es wohl vielen da draussen. Es gibt nicht ohne Grund einen Boom für Pokémon-Karten der ersten Generation auf den Secondhandplattformen.

 

Irgendwann werden die Jungs etwas finden, das sie interessiert von dem ich keine Ahnung habe. Dann kann ich sie nicht mehr begleiten und mich mit ihnen gemeinsam in dieser fiktiven Welt bewegen. Dann werde ich genauso dazulernen müssen, wie unserer Eltern das taten. Bis dahin geniesse ich mein Expertenwissen und das Bad in alten Zeiten. Mein neues Ziel? 1. Meinen Kindern ein paar zeitgenössische Kleider besorgen. 2. Ich will ihn wieder mitsingen können, den Pokémon Rap.